Die Fähigkeiten der Zukunft

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit meinen Teams damit, Produktionsbetriebe gegen interne und externe negative Einflüsse widerstandsfähig zu gestalten. Wir versuchen immer, entsprechende Maßnahmen für eine heutzutage notwendige Flexibilität zu finden. Bisher haben wir in den Arbeitsgruppen immer verstanden, welche Mechanismen gegenwärtig greifen und konnten daher auch entsprechend gute Lösungsansätze kreieren. Häufig gelingen uns sehr gute und vielversprechende Optimierungen, weil das Bild für uns sehr klar ist. Manchmal müssen wir aber auch extrem aufpassen, weil unser Umfeld seit zwei bis drei Jahrzehnten zumeist volatilen Bewegungsmustern unterlieg. Das ist nicht weiter schlimm, man muss es nur wissen.

Bis hierhin konnten wir also die turbulenten und sich ständig ändernden Rahmenbedingungen in der heutigen Wirtschaftswelt ganz gut berücksichtigen. Hier half uns das allseits bekannte Akronym VUCA. Es hat uns geholfen, zu verstehen, was da draußen los ist und vor allem, dass man nicht alleine ist mit der Komplexität und mit dem sich immer schneller drehenden Karussell. VUCA steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität und wurde etwa 1990 durch das “U.S. Army War College” geprägt. Der Begriff sollte uns bisher dabei helfen, die durchaus herausfordernden Aufgabenstellungen zu beschreiben, die sich aus der Situation des “Kalten Krieges” heraus ergaben. Anfang der 2000er Jahre hielt dieses Akronym Einzug ins obere Management der Unternehmen und in die Führungskräfte-Seminare dieser Welt, weil es sehr gut dazu geeignet war, die Wirtschaftswelt mit all ihren Herausforderungen und Rahmenbedingungen zu erklären.

VUCA hat dazu beigetragen, Lösungsansätze für unsere Probleme zu finden oder zumindest zu verstehen, was von außen auf unsere Unternehmen einwirkt. Aber die Welt scheint sich mittlerweile noch schneller zu drehen und dabei immer intensiveren und nicht nachvollziehbaren Veränderungen zu unterliegen. Zudem scheint eine Entwicklung im Gange zu sein, die in ihrer Konsequenz brutalere und unvorhersehbare Ausgänge hervorruft.

Spätestens seit 2020 sehen sich Unternehmen nicht mehr nur mit einem volatilen, unsicheren, komplexen oder gar mehrdeutigen Umfeld konfrontiert. Unser Wirtschaftssystem unterliegt also nicht mehr nur den schnellen und mehrdeutigen Prozessmusterwechseln, sondern eine Brüchigkeit im Sinne einer Porosität tritt verstärkt in Erscheinung. Die Dinge scheinen im einen Moment noch in Ordnung zu sein und plötzlich kommt der totale Zusammenbruch. Wir befinden uns anscheinend in einem Zeitalter, in dem wir uns mit Mega-Ereignissen wie der Corona-Pandemie, dem Zusammenbruch von Lieferketten, den Problemstellungen des Klimawandels, fürchterlichen Kriegssituationen und einer Inflation konfrontiert sehen, die viele Unternehmen vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Und als ob das nicht ausreichend wäre, treten all diese tragischen Umstände beinahe gleichzeitig auf.

Es scheint so, als komme die VUCA-Welt hier an ihre Grenzen und könnte uns ab jetzt keine vollumfassende Erklärung mehr für unser Wirtschaftsumfeld bieten. Mit Volatilität und Ambiguität ist der Zustand alleine jedenfalls nicht mehr komplett zu beschreiben - es ist scheinbar ein nächstes Level erreicht.

So ist es sicherlich interessant, dass seit dem Jahr 2020 ein neues Akronym in der Geschäftswelt und in wissenschaftlichen Texten auftaucht und Führungskräften vermutlich einen neuen - zusätzlichen - Denkrahmen bietet: Die Rede ist vom sogenannten BANI-Modell. Jamais Cascio, ein amerikanischer Zukunftsforscher erwähnte dieses Modell bereits 2020 in seinem Essay “Facing the Age of Chaos" und zeigte auf, dass mittlerweile eine neue Beschreibung der aufgekommenen Situation notwendig ist.

BANI steht für:

B - Brittle

Wir bewegen uns zunehmend in brüchigen Systemen, die nicht mehr allein durch “Volatilität” beschrieben werden können. Ein sprödes System bricht plötzlich, ohne jegliche Vorzeichen oder vorhergehende Wechselwirkungen. Es scheint bis kurz vor dem Bruch noch alles in bester Ordnung zu sein und dann entsteht plötzlich der vollständige Kollaps.

A - Anxious

Aus Angst vor einer zunehmenden Brüchigkeit der Systeme laufen wir Gefahr, in eine Art Angststarre zu verfallen. Dringend notwendige Änderungen werden nicht herbeigeführt, während überlastete Systeme jedoch dringend gerettet, bzw. Negativ-Entwicklungen zumindest präventiv behandelt werden müssen. Desinformationen und Fake-News verstärken diesen Effekt heutzutage zusätzlich.

N - Non-linear

Ursache und Wirkung sind teilweise weitestgehend ausgesetzt und scheinen voneinander entkoppelt zu sein. Die “alten Regeln” greifen offensichtlich immer öfter nicht mehr. Bisher galt: Wenn wir jetzt “dies” tun, dann wird genau “das” passieren. Aber häufig ist es nicht mehr so wie früher. Entsprechend kann es heutzutage passieren, dass Kleinigkeiten komplette Systeme nicht nur ins Wanken, sondern zum Einsturz bringen können und die zugrundeliegende Funktion unbekannt bleibt.

I - Incomprehensible

Während wir bisher noch verstanden haben, weshalb Dinge so geschehen, wie sie geschehen, zeigen sich heute derart komplexe Situationen, für die es keine Erklärungen gibt. Immer öfter verstehen wir die Situationen aufgrund der komplexen und nicht zusammenhängenden Informationen nicht mehr. Die Informationsdichte ist heutzutage extrem hoch und es ist immer seltener möglich, den Überblick über die Informationslage zu bekommen.

Was machen wir jetzt mit dieser Beschreibung, bzw. diesem Wissen? Soll es uns aufzeigen, dass wir gefälligst ängstlicher sein sollten? Ist VUCA daher ein Auslaufmodell?

Nein, beides trifft in meinen Augen nicht zu. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Vielmehr sollten Führungskräfte sich beide Gedankenmodelle zu Gemüte führen, um für sich und mit ihren Teams zu verstehen, was gerade passiert und welche Rückschlüsse daraus gezogen werden könnten. Und es gibt immer Lösungsansätze! Diese Modelle zeigen zudem auch, dass man mit seinen Problemen im Unternehmen nicht alleine ist - im Gegenteil: das Problemfeld ist so groß, dass für diesen Gesamtzustand Definitionen wie VUCA und BANI gefunden wurden. Wir sind als Individuum oder als Organisation also nicht exklusiv betroffen. Alleine das ist schon eine hilfreiche Erkenntnis.

Ja, VUCA gerät inhaltlich mittlerweile zwar an seine Grenzen, ist aber dennoch in weiten Teilen der Wirtschaft noch gültig. Im Vergleich zu BANI ist es zudem auffällig, dass VUCA eher systemorientiert ist, während das BANI-Modell etwas mehr die menschliche Gefühlswelt in den Vordergrund rückt. Und das ist auch dringend notwendig, denn Manager und deren Teams verharren immer häufiger im Modus kognitiver Dissonanz - sie wissen, dass etwas geschehen muss, trauen sich jedoch offensichtlich nicht, mutige Maßnahmen zu ergreifen.

Was aber bietet das BANI-Modell an dieser Stelle als Lösungsansatz Grundsätzlich bietet das Modell zunächst die Möglichkeit, die neue "Ordnung" und deren Mechanismen zu verstehen. Ein ganz wichtiger Schritt, denn wir können nur die richtigen Maßnahmen ergreifen und die richtigen Dinge tun, wenn wir wissen, was gerade passiert und warum etwas passiert. Zusätzlich sollten sich Unternehmen dringend mit der Notwendigkeit einer organisationalen Resilienz beschäftigen, sowie selbstlernende Teams fördern.

Es bedarf an neuer Achtsamkeit und dem Verständnis von Führungskräften, was den Teams zugemutet werden kann. Manchmal ist vielleicht auch die zweitbeste Lösung richtig, wenn das Team sich hiermit besser fühlt. Zudem wird die Fähigkeit zur Adaption mehr und mehr eine größere Bedeutung erhalten. Uneingeschränkte Effizienz (ein beinahe negativer Begriff, der jedoch schon jetzt und in Zukunft immer mehr die Überlebensfähigkeit der Unternehmen sichert) versetzt Unternehmen in die Lage, schlank zu arbeiten und keinen unnötigen Ballast in den Prozessen mit sich zu ziehen.

Die Verantwortlichen in Organisationen sollten sich zudem die die Fragen stellen:

  • Wie flexibel stellen wir Unternehmen in ihrer Handlungsfähigkeit auf und welche sperrigen Mechanismen stehen einem flexiblen Bewegungsmuster entgegen?

  • Wie erzeugen wir den Fokus auf ein sinnvolles Effizienzverständnis, welches durch die Belegschaft getragen wird?

  • Sind wir nah genug am Markt, um jederzeit zu erkennen, welche Veränderungen unsere Kunden morgen verlangen?

  • Wie können wir das Personal auf die BANI-Welt vorbereiten, damit keine Angststarre entsteht und wir handlungsfähig bleiben?

  • Was setzen wir den verloren gegangenen Nicht-Linearitäten entgegen?

  • Wie erzeugen Führungskräfte Vertrauen und Authentizität, damit die Fülle an Informationen unsere Sicht nicht trübt?

  • Haben wir die benötigte Transparenz in unseren Unternehmen, damit das Personal wichtige Entscheidungen nachvollziehen und unterstützen kann?

Die Antworten fallen wir jede Organisation höchst individuell aus. Das Wichtigste ist jedoch, dass Sie sich diese Fragen überhaupt stellen.

Bleiben wir also mutig und trauen uns, den stürmischen Zeiten etwas entgegenzusetzen. Es bedarf ab jetzt an guter Führung und flexibler Prozesse in den Unternehmen. Jede Führungskraft und jedes Unternehmen benötigt an dieser Stelle sehr individuelle Konzepte. Wichtig ist zuallererst, dass man die äußeren Rahmenbedingungen kennt. Hierbei kann BANI (und auch VUCA) eine Hilfestellung bieten.

Leider ist in vielen Unternehmen weiterhin ein Verharren im Status Quo und in veralteten Strukturen zu beobachten. Eines ist jedenfalls sicher: Ein "weiter so" wird zum Scheitern führen.

Packen Sie also die Themen an, die Sie seit Jahren in die Rubrik "Müsste man mal machen" geparkt haben, anstatt sich mit der Verwaltung des aktuellen Zustands zu beschäftigen.

Haben Sie keine Angst vor Fehlern. Der größte Fehler wäre, nichts zu unternehmen.

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Wenn logische IT-Systeme auf Organisationen treffen

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A3 Problem Solving