Der ursprüngliche Lean-Ansatz
Im Laufe meiner beruflichen Karriere habe ich mich mit vielen Menschen austauschen können, die sich in irgendeiner Form mit dem Thema Lean Management auseinandergesetzt haben, bzw. dies heute noch tun. Ebenso habe ich selbst unzählige Lean-Projekte erfolgreich begleitet - angefangen von kleineren Pilot-Workshops bis hin zu umfangreichen Lean-Einführungen. Und was mich neben der eigentlichen Thematik immer wieder unglaublich fasziniert und zugleich erstaunt, ist das unterschiedliche Verständnis für den Lean-Ansatz.
Es war in den Diskussionen mit meinen Gesprächspartnern bisher wirklich alles an Meinungen an Bord und das Spektrum reichte dabei von rein mechanistischen Wunschvorstellungen wie etwa "Ein Workshop reicht, 20% gehen immer!” bis hin zu groß (und wirklich gut) angelegten Strukturänderungen in der gesamten Organisation, um den Lean-Ansatz zu etablieren. Dabei stellte ich mir immer häufiger die Frage, wie der damalige Lean-Ansatz in seiner Grundidee konzipiert und wofür er eigentlich geschaffen wurde. Ich lernte, dass zur Beantwortung dieser Frage der Blick auf Toyota und die zugehörige Unternehmensgeschichte unumgänglich war.
Gegenseitiger Respekt und eine gesunde Fehlerkultur als Schlüssel
Das Toyota Production System (kurz: TPS) wurde aus meinem Verständnis heraus dazu geschaffen, ein widerstandsfähiges Produktionssystem zu ermöglichen, welches flexibel und intelligent auf äußere Einflüsse reagieren kann. Zu den Erfolgsfaktoren zählen hier noch heute in erster Linie eine tiefgehende Prozess- und Produktkenntnis. Aber auch der respektvolle Umgang und die Integration des Personals spielt für die kontinuierliche Verbesserung über alle Unternehmensebenen eine sehr wichtige Rolle. Fehler werden nicht bestraft, sondern als Möglichkeit zur Verbesserung gesehen. Auf dem Weg zur Problemlösung wird meist ein kleinschrittiges Vorgehen bevorzugt, weil es in den seltensten Fällen eine sofortige Lösung gibt, die nicht mehr weiter optimiert werden muss.
Heutzutage reden wir oft von “neuartigen” agilen Arbeitsmethoden, die das Lean Management jedoch seit Jahrzehnten kennt und erfolgreich anwendet. Nur logisch: ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess ist ohne ein iteratives Vorgehen nur schwer vorstellbar. Weiterhin werden im TPS sämtliche Prozesse insofern optimiert, als dass sie sich auf die Wertschöpfung aus Sicht des Kunden konzentrieren. Zudem schöpfen die Produktionsteams durch diese Optimierung freie Kapazitäten, um sich ggf. auf kritische Prozesse stärker fokussieren oder bei Auftragsspitzen besser gegensteuern zu können.
Im TPS geht es also nicht darum, ein “Mitarbeiterfreistellungsprogramm” zu betreiben oder freie Kapazitäten so stark wegzurationalisieren, dass die kleinste Unebenheit im Alltag alles ins Wanken bringen würde. Das wäre wenig clever. Leider ist diese Denkweise jedoch stark verbreitet. Es muss irgendetwas auf dem Übersetzungsweg in die westliche Wirtschaftswelt schiefgelaufen sein, denn in den vergangenen Jahren verfestigte sich in Deutschland meiner Meinung nach zunehmend die Ansicht, dass nämlich genau das der Fall sei - dass “Lean” lediglich ein Effizienzprogramm mit hilfreichen Tools im Werkzeugkasten ist. Bitte nicht falsch verstehen: Lean beherbergt tatsächlich extrem wirksame Effizienzmethoden, die Unternehmen nachweislich weiterbringen und natürlich kann man diese Methoden auch einzeln ohne ein größeres Einführungsprogramm zur Anwendung bringen. Dies ist jedenfalls allemal besser, als überhaupt nichts zu unternehmen. Der ursprüngliche Lean-Ansatz sieht jedoch ein noch viel nachhaltigeres und deutlich wirkungsvolleres Vorgehen vor.
Das Personal als wichtigste Stakeholder-Gruppe des Chefs
In Deutschland, oder vielleicht sogar in der westlichen Wirtschaftswelt, spielte der Mensch lange Zeit keine besonders zentrale Rolle im Lean Management. Dies ändert sich seit einiger Zeit glücklicherweise, weil viele Unternehmenslenker, Produktionsingenieure und Berater verstanden haben, dass Menschen keine reine Produktionsressource sind, sondern die Hauptrolle der Know-How-Träger einnehmen. Sie sind Dreh- und Angelpunkt der gelebten Unternehmenskultur und die Seele des Qualitätsverständnisses. Sie übernehmen somit einen ganz entscheidenden Part, möchte man eine von Respekt geprägte Arbeitsatmosphäre schaffen, in der eine kontinuierliche Verbesserung als intrinsische Motivation gelebt wird.
Somit wird also das Thema Führung in diesem Kontext erfreulicherweise immer häufiger als wichtiger Schlüssel gesehen und viele Unternehmen erzeugen mittlerweile mit respektvollen Führungsmethoden gute Rahmenbedingungen, in denen ein Kulturwandel stattfinden kann. “Lernende Organisationen” müssen sich unter guten Führungskräften entwickeln und können nicht einfach implementiert werden. Führungskräfte sollten ihren Teams daher Freiräume für Versuche und neue Gedanken geben und sie im Rahmen des Lean Leaderships befähigen, die Arbeit selbstständig und eigenverantwortlich ausführen zu dürfen.
Das Thema Führung ist bspw. im TPS ganz zentral. Toyota legt größten Wert auf Führungskräfte, die zur Unternehmenskultur passen. Hierfür werden teils langjährige Personalentwicklungsprogramme aufgesetzt, um nicht in eine Situation zu geraten, in welcher man sich ein Führungsteam von außen “einkaufen” und irgendwie zusammenpuzzeln muss. So etwas geht in aller Regel schief und setzt viele Organisationen unnötig unter Stress.
Befehls- und Kontrollstrukturen erzeugen keine nachhaltigen Erfolge
Lean ist also nicht nur ein reines Effizienzprogramm (es ist das und noch viel mehr!) und es ist übrigens auch kein Relikt aus Zeiten der tayloristisch geprägten Massenproduktionen. Auch das lese und höre ich immer wieder. Mitarbeiterbefähigung und -einbeziehung, ein respektvoller Umgang im Unternehmen und mit Kunden und Lieferanten, sowie agile Ansätze im Rahmen der Problemlösung, haben sehr wenig bis gar nichts mit einem reinen tayloristischen Produktionssystem zu tun. Das westliche Missverständnis des rein mechanistischen Lean-Ansatzes findet seinen Nährboden sehr wahrscheinlich darin, dass Unternehmen veraltete Befehls- und Kontrollstrukturen, in denen es durchaus kurzfristige Effizienzerfolge geben kann, grundsätzlich leichtfallen. Diese Strukturen täuschen jedoch eine nicht vorhandene Sicherheit vor und Unternehmenslenker fühlen sich hierin weniger zu weitreichenden Veränderungen bewegt, was wiederum nur kurzfristige Erfolge in ihrem Produktionssystem realisiert. “Befehle” sind schnell ausgesprochen und zügig umgesetzt. Nachhaltige Überzeugungsarbeit sieht allerdings anders aus. Die Menschen müssen hierbei mitgenommen werden, sind sie doch die alles entscheidende Variable des Erfolgs.
Stellen Sie also bitte den Menschen in den Mittelpunkt aller Optimierungen. Methoden und Technologien sind wichtig - betreten die Bühne allerdings erst dann, wenn Ihre Teams bereit sind, den Vorhang zu öffnen.