Die 4-Tage-Woche - ein geeigneter Pauschalansatz?
Es klingt beinahe wie eine kreative Patentlösung per Fingerschnipp, um einerseits die Attraktivität für Fachkräfte zu erhöhen und andererseits eine Art langersehntes “Entlastungsprogramm” für die Belegschaft zur Verfügung zu stellen: die Rede ist von der viel diskutierten 4-Tage-Woche. Jedoch liegt bei genauerer Betrachtung die Befürchtung nahe, dass das Problem wieder einmal deutlich komplexer zu sein scheint als zunächst angenommen. Es wäre beinahe verrückt, würde die Lösung für alle Belastungs- und Effizienzprobleme durch eine simple Herausnahme eines Arbeitstages so nahe liegen. Zugegeben: regelmäßig ein langes Wochenende zu haben, klingt verlockend, kann daher aber auch blind machen vor dem, was eigentlich seit langer Zeit an Problemen unter der Oberfläche brodelt. Langjährig bestehende und nie aus dem Weg geräumte Probleme und Ineffizienzen im Unternehmen könnten sich eventuell als wahre Kernursache für Unzufriedenheiten, Überlastungen und Verärgerungen offenbaren.
Deutschlands Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fühlen sich zunehmend stark belastet; der Alltag scheint mit all seinen Verpflichtungen - beaufschlagt durch immer komplexere Aufgaben am Arbeitsplatz - stetig schwerer zu bewältigen zu sein. Rein reflexartig scheint der Ruf nach einer kürzeren Arbeitswoche tatsächlich sehr attraktiv. Jedoch sollte überlegt werden, ob eine kürzere Wochenarbeitszeit die Probleme tatsächlich an der Wurzel packt und bspw. die ständigen Arbeitsunterbrechungen, die Kommunikationsprobleme und prall gefüllten Kalender mit Meetings, die vielen Mails oder auch Messenger-Meldungen zu Themen, die mal wieder aus dem Ruder gelaufen sind, lösen kann. Kann der eine Tag weniger Arbeit in der Woche wirklich das Problem ineffizienter Prozesse und schlecht eingeführter IT-Systeme oder auch ineffizienter Arbeitsgewohnheiten und unübersichtlicher Zuständigkeiten tatsächlich bändigen? Sind es denn nicht genau diese Themen, die uns schier wahnsinnig werden lassen und belasten? Ganz ehrlich: Der zusätzliche freie Tag wirkt mit etwas Abstand auf die Sache weniger als ein wirklich gut durchdachter Lösungsansatz, sondern erinnert eher an (zunächst nachvollziehbares) Fluchtverhalten.
Fokus mehr in Richtung Entscheidungsfreiheit und Befähigung der Menschen lenken
Das langjährige und stoische Ignorieren ganz grundlegender Prozessprobleme und die geflissentliche Beibehaltung der immer gleichen und alten schlechten Gewohnheiten, wird dazu führen, dass sich auch in einer 4-Tage-Woche genau gar nichts am eigentlichen Problem ändert und die Situation nur noch schlimmer wird. Die Herausnahme eines kompletten Arbeitstages wird daher die Lage vielleicht kurzfristig aus der anfänglichen Euphorie heraus leicht verbessern, jedoch nicht nachhaltig zum Guten wenden und in einen langfristig hilfreichen Lösungsansatz umwandeln. Letztendlich zählt der Output und keine reine Arbeitszeit. Will heißen: die Menge an Arbeit bleibt unweigerlich erhalten und muss dennoch vom Team erledigt werden - und dann sogar mit der gleichen, womöglich ineffizienten Methode, die schon in der 5-Tage-Woche angewendet wurde. Dies scheint keine sinnvolle Lösung für ein Volumen- und Effizienzproblem zu sein.
Würden wir in den Unternehmen den Fokus mehr in Richtung Entscheidungsfreiheit und Befähigung der Menschen lenken, dann könnten wir nicht nur eine wirkliche Arbeitszeitverkürzung durch kluge und produktive Prozesse erreichen, welche durch die handelnden Personen geschaffen wurden, sondern zeitgleich auch das Treppchen auf der Zufriedenheitsskala innerhalb der Belegschaft hochklettern. Wir benötigen dringend eine stärkere Einbeziehung und autonome Arbeitsweise der agierenden Menschen, damit wichtige Abläufe gut geformt und optimiert werden. Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann man nicht direkt herbeiführen; man kann jedoch Rahmenbedingungen schaffen, in denen ein neues (gutes) Gefühl für Arbeit und für das Unternehmen entstehen kann. Lediglich im Verlauf der Woche nach hinten heraus etwas abzuschneiden, um dem ungeordneten Arbeitsalltag "zu entkommen", führt langfristig höchstwahrscheinlich nicht über die Ziellinie. Ein 4-Tage-System zeigt sich zudem genauso starr und unbeweglich wie das bekannte 5-Tage-System. Eventuell wäre für bunt durchmischte Organisationen ein flexibleres Arbeitszeitmodell hier doch viel interessanter, welches auf die völlig verschiedenen Lebensphasen des Personals gezielt eingehen könnte.
Arbeitszeit pro Arbeitskraft in Deutschland auf historischem Tiefstand
Einen zudem sehr interessanten Aspekt liefert der jüngst erschienene Kommentar “Die Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells” [1] von Thomas Mayer bei Flossbach von Storch unter Heranziehung von Arbeitszeitdaten durch Macrobond: Die durchschnittliche Arbeitszeit pro Arbeitskraft ist in Deutschland seit Jahren stetig rückläufig und aktuell auf einem historisch niedrigen Stand. Ein erlaubter Konter wäre hier natürlich, dass reine Arbeitszeit noch lange nichts mit Produktivität zu tun hat - ja, völlig korrekt. Aber auch in puncto Produktivität finden wir uns leider nur auf den hinteren Plätzen wieder, wie die 9. Auflage des vom ZEW erstellten Länderindex [2] aufzeigt. Nebenbei sei bemerkt, dass Deutschland bei der Wettbewerbsfähigkeit im gleichen Länderindex zudem insgesamt nur Platz 18 (!) unter 21 großen Industrienationen belegt. Dieser Gesamtzustand sollte uns ernsthaft zu denken geben und zu Diskussionen anregen, ob wir diesem Problem tatsächlich mit einer reinen Arbeitszeitverkürzung (die bereits seit Jahren fortschreitet) begegnen möchten.
Es ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede von einer drohenden Deindustrialisierung Deutschlands. Was sich beinahe so harmlos in einem Satz liest, ist volkswirtschaftlich ein nicht auszudenkender und keinesfalls erstrebenswerter Zustand. Ohne eine flächendeckend gut funktionierende und ausgelastete Produktion in deutschen Unternehmen, gibt es keine Wertschöpfung. Und ohne Wertschöpfung gibt es keinen Wohlstand - das müssen wir als (noch) relevante Industrienation wissen. Die enorm schwierige Kostensituation durch steigende Energiekosten, hohe Lohn- und Gehaltsgefüge, unzufriedenstellender und komplexer Prozesse sowie hoher Steuerlast sind nur ein kleiner Einblick in die preistreibenden Kräfte, welche die Situation deutscher Produktionsbetriebe sukzessive verschlechtert.
Wir sind also gut beraten, uns wieder relativ zügig auf solch enorm wichtige Themen wie Innovation (Patentanmeldungen ebenfalls seit Jahren rückläufig), Automatisierung, Senkung der Herstellungskosten, Erstellung hoch effizienter und kluger Arbeitsprozesse, Digitalisierung sowie moderner Führungskultur zu konzentrieren, anstatt tagtäglich Arbeitskräfte in schlecht funktionierende Systeme zu schicken und sich in Folge dessen mit arbeitszeitverkürzenden Fluchtmechanismen zu beschäftigen, die in solchen Zeiten - zumindest im Pauschalansatz betrachtet - beinahe etwas unüberlegt daherkommen.
Für wen die 4-Tage-Woche eine Option sein könnte und für wen eher nicht
Unternehmen, die heute schon sehr weit darin entwickelt sind, ihre internen Abläufe einer kontinuierlichen Verbesserung durch ihr eigenes Personal zu unterziehen, besitzen oftmals auch die notwendigen Rahmenbedingungen für eine respektvolle und wertschätzende Atmosphäre im Arbeitsalltag. Die Mitarbeitenden haben die Erlaubnis und auch die Fähigkeiten, selbständig zu handeln und zu entscheiden. Das ist Motivation pur. Diese Organisationen beschäftigen sich nicht überwiegend mit internem “Fire-fighting”, sondern sind wahrscheinlich jetzt schon dazu in der Lage, ein deutlich geändertes Arbeitszeitkonzept schnell zu realisieren - unabhängig davon, ob es nun vier Tage oder ein flexibleres Arbeitszeitmodell ist. Ein solches Unternehmen kann hier mit einem intelligenten Modell tatsächlich einen echten und nachhaltigen Mehrwert für die Beschäftigten schaffen, weil die grundlegenden Bedingungen hierfür vorliegen.
Beschäftigt sich allerdings ein Unternehmen aktuell noch mit ganz elementaren Problemen in Sachen unproduktiver Prozess- und Systemlandschaften, schlechter Kommunikationsstruktur oder auch Führungsdefiziten, dann besteht hier mindestens die handfeste Gefahr, dass eine Arbeitszeitverdichtung in Form einer dauerhaft verkürzten Arbeitswoche, das Chaos erst so richtig perfekt machen könnte. Hierdurch werden dann keine Probleme gelöst, sondern zusätzliche geschaffen. Es ist also - wie so oft - schwer, mit pauschalen Ansätzen auf Organisationen zuzugehen, die höchst unterschiedliche Entwicklungsstände aufweisen.
Meine Empfehlung an Unternehmenslenker ist demnach folgende: Bitte fangen Sie an, über Arbeits- und Produktionssysteme nachzudenken, in denen Ihr Personal eine zentrale Rolle spielt. Geben Sie Stück für Stück mehr Entscheidungsfreiheit in die Belegschaft und lassen Sie sinnvoll mitgestalten. Schaffen Sie eindeutige Zuständigkeiten sowie glasklare und einfache Prozesse; schauen Sie sich an, was Sie wirklich dieses Quartal oder dieses Jahr erledigen wollen, damit Ihr Personal konzentriert an ausgewählten Themen arbeiten kann. Sorgen Sie für Effizienz und somit für Ruhe im gesamten System. Dann kann auch hier ein neues Arbeitszeitmodell einen wirklichen Mehrwert erzielen.
[2] Stiftung Familienunternehmen (Hrsg.): Länderindex Familienunternehmen. 9. Auflage. Erstellt vom ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Mannheim, München 2023, www.familienunternehmen.de